19. Blog - Ichinohe JAP - Reiko, warum hast Du gestern angehalten?

Beginnen wir beim Kopf.

Mister Hiroyuki steht mit dem Kompass neben mir, im Zimmer seines Sohnes. Kopfkissen wird nach Osten ausgerichtet. Nur so lässt es sich gesund schlafen.

Sein Sohn ist übrigens in Tokyo auf der Uni…nur so!

Mister Hiroyuki nimmt den Boden nass auf, stellt mir eine Tasse kalten Grüntee auf den Rundtisch und meint ich solle mich erholen. Die Japaner sind scheu? Nicht alle! Wollte vorhin mein Zelt im Park neben dem Friedhof stellen. Es hatte sogar einen Wasserhahn. Mister Hiryuki’s Joggingrunde geht beim Friedhof vorbei. Hier macht er immer eine Verschnaufpause und ein paar Dehn-, Streckübungen. Frage ihn ganz höflich ob das wohl in Ordnung sei, wenn ich hier mein Zelt stelle?! Er setzt sich auf die Bank und denkt nach. Er denkt eine ganze Weile. (habe ich hier in Japan übrigens schon öfters beobachtet, man nimmt sich Zeit zu denken, just a moment, i have to think!)«Besser Du kommst zu uns nach Hause! Komm mit». Er ist ein schneller Läufer, beim «Hoger» mag ich ihm kaum nach, jesses!

Vor seinem wunderschönen, japanischen Haus ist die Aufregung gross. «Aus der Schweiz? Den ganzen Weg aus der Schweiz? Aus DER Schweiz?? Schnell ruf die Tante an, die glaubt nicht, dass wir eine Schweizerin bei uns haben! Weck den Grossvater auf!». Schon verrückt, hier kennt jede und jeder die Schweiz. Denke zurück, als ich damals durch Länder fuhr, wo die Menschen gar nicht wussten, dass es eine Schweiz gibt. Noch nie von dem Land gehört.

So anders hier.  Und ich fahre ja auch durch winzige Dörfer, wie dieses. Auf meiner Papierkarte, sowie auf dem maps.me App gar nicht eingezeichnet. Die Gastfreundschaft der Familie ist einfach total herzlich. Kann Duschen und schon steht ein Menu auf dem Tisch. Reis, Kimchee, Eiersuppe, Kabissalat und Schweinefleisch. «Bist Du Christ? Katholisch? Darfst Du Schweinefleisch essen?» :) «Ja, ich esse Fleisch und probiere sehr gerne davon». Auf der japanischen Matte mit richtiger Aurichtung kann ich herrlich schlafen. Am Morgen ist ein stärkendes Frühstück mit Reis, Salat, Lauchsuppe und Banane auf dem Tisch. Mutter schenkt mir noch ein Pack Feuchttücher. Danke Mister Hiroyuki. Für Alles. Arigato!

Bleiben wir bei der Gastfreundschaft – wechseln aber zu Reiko. Die Geschichte beginnt mitten auf der Strasse. Bin wie fast jeden Tag in Hokkaido, bis zuinnerst durchnässt. Muss meine Gedanken enorm fokussieren, dass der Regen mich nicht niederprasselt. Will hier nicht jammern. Was die Menschen im Südwesten Japans zurzeit durchmachen ist ganz, ganz schlimm.

Sehne mich für einen kurzen Moment nach Zuhause. Sehne mich danach wie ich an der Holz-Tür anklopfe, warte und Mama öffnet. Es riecht nach Ofenkartoffeln mit Rosmarin. Natürlich mit einem Schuss Olivenöl aus der Toskana. Sie drückt mich. Verweile in Gedanken. Ist es eine Träne? Oder ein Regentropfen der über die Wange rollt? Just in diesem Moment hält ein Auto vor mir. Die ältere Dame winkt mir zu. «Hallo, entschuldige, dass ich dich aufhalte. Bist Du aus der Schweiz? Ich war vor 42 Jahren in Genf, Zürich und Interlaken. Bin Dir eine Weile gefolgt. Gerne möchte ich Dir diese Karamellbonbons schenken und da noch eine Spezialität aus Hokkaido. Zur Stärkung. Entschuldige, dass ich dich aufhalte, tut mir wirklich leid. Mein Name ist Reiko.» Jetzt ist es definitiv eine Träne! Wisst ihr, für mich ist das kein Zufall. Wenn ein Gedanke auf die Realität trifft! Habe keine Termine und alle Zeit der Welt. So plaudern wir im Regen. «Es ist noch weit bis Hakodate! Wenn Du ankommst, lade ich Dich zu Sushi ein, ruf mich an, wenn Du da bist. Pass auf Dich auf. Fahre vorsichtig!»

Schon fährt sie mit den Warnblinkern davon. Warum darf ich immer wieder so netten Menschen begegnen. Ich bin ein Glückspilz! Dafür danke ich jeden Abend.

Es regnet die ganze Nacht durch. Hab schlecht geschlafen. Ziehe aber in der Früh motiviert die feuchten Kleider an. Ab nach Hakodate. Reiko wartet. Ein Japaner schenkt mir unterwegs noch ein Bier mit Whiskey. Ein anderer Kekse.

Finde ein günstiges Hostel. Also es war eher eine Wohnung. Der Mann lebt alleine hat ein Restaurant und ein leerstehendes Zimmer. Reiko holt mich um 17:40 Uhr hier ab. Im besten Sushishop der Stadt esse ich das allerbeste Sushi. Japaner kommen sogar von Osaka mit dem Flieger um hier Sushi zu essen. Der Sushi-Master ist seit 42 Jahren im Geschäft. Die Kunst hat er seinem Sohn weitergegeben. Zusammen zaubern sie. Mutter ist an der Kasse. Das ist echt ein Erlebnis. «Reiko, sag mir, warum hast du gestern angehalten?». «Ich sah, dass du eine Frau bist und aus der Schweiz kommst, so traute ich mich. Die Reise damals in die Schweiz werde ich nie vergessen. Und, ich denke es ist wichtig mit Menschen von anderen Kulturen und Nationen in Kontakt zu kommen. Magst du lieber Lachs oder Aal?» Lachs.

Reiko erzählt mir ihre Geschichte. Ein kurzer Ausschnitt? Gut. Als ihre beiden Kinder zur Schule gingen wollte sie die Autoprüfung machen. Ihr Mann ist Arzt und war nicht begeistert von der Idee. Es könnte was passieren. Ein Unfall, unvorstellbar wenn erst noch die Kinder hinten drin wären. 25 Jahre später, als die Kinder ausgezogen sind, hat sie sich heimlich für Fahrstunden angemeldet. Als sie bestanden hatte, zeigte sie ihrem Mann den Ausweis! Er freut sich. Sie sitze jetzt ja alleine im Auto. «Weisst Du, 25 Jahre habe ich gewartet aber ich habe es gemacht! Toll gell?! So kann ich nun von Sapporo aus mit dem Auto meine Tochter und Enkelin in Hakodate besuchen. Komm wir probieren noch den Hering!»

Ich bin so stolz auf Reiko. Ich esse hier Sushi mit einer 70-jährigen Dame und merke, wir sind Freunde. Drei kleine Kuhglöcken aus einem Tourishop in Interlaken hat mir Mama ins Gepäck eingepackt. Sie sagte vor der Abreise: «setzte sie weise ein!». Reiko bekam das erste Glöcken. Sie strahlte und drückte mich.

Genau diese Momente machen diese Reise aus!

 

Liebe Grüsse aus Japan

Euer Thesi

Kommentar schreiben

Kommentare: 6
  • #1

    Stephanie Hollinger (Sonntag, 15 Juli 2018 19:44)

    So en schöni Gschicht!! ❤

  • #2

    Caroline (Donnerstag, 19 Juli 2018 16:05)

    Hey Thesi!

    Ich bewundere dich so sehr und bei mir fliessen regelmässig auch Tränen wenn ich deine Blogs lese. Du bist einfach der Knaller!

    Ich denke oft an dich und drücke dich fest

    Caro

  • #3

    SILVIA (Samstag, 21 Juli 2018 18:17)

    hallo Thesi
    Du triffst auf so viele gute Menschen, die dich verwöhnen. Es ist so schön deine Blogs zu lesen und zu erfahren, wie es dir geht und wo du gerade bist.
    Ich wünsche dir eine gute und unfallfreie Weiterfahrt

    lg Silvia

  • #4

    Bernadette (Sonntag, 22 Juli 2018 14:20)

    Liebe Maria-Theresia
    Über deinen neuesten Blog will ich mir wahrlich Zeit nehmen nach zu denken!
    Er enthält wiederum so viele ungewohnte – vielleicht auch von uns Schweizern «verwehte» Einsichten, die mir - allenfalls vielen von uns - gut tun. DANKE!
    Trag dir Sorge – nimm dir ausreichend Zeit zu denken, zu handeln, zu geniessen!
    Liebste Grüsse Bernadette

  • #5

    Thomas (Mittwoch, 25 Juli 2018 09:13)

    Alles liebe und gute zu deinem Geburtstag

  • #6

    Heinz (Mittwoch, 25 Juli 2018 21:30)

    Hallo Thesi
    Besten Dank für deine so spannenden Blogs. Bei deinem Dauerregen in Japan leide ich förmlich beim lesen...Ich finde es so schöne, dass du immer wieder so tolle Begegnungen erlebst und wünsche dir und Freddy weiterhin eine gute Fahrt.
    PS: wir sind zurzeit in Adelboden in den Ferien.

    Liebe Grüsse und einen festen Drücker
    Heinz