Wir sitzen im Zug 100. Zum Glück! Dank ein paar Tränen. Von vorne...
Der Zug 100 fährt von Moskau bis nach Wladiwostok in einem zug durch. 9259 Kilomter. 1 Woche. 144 Stunden. Die Transsibirische Strecke – die längste Bahnstrecke der Welt. Hochachtung vor den Arbeitern, die diese Strecke bauten und sie heute pflegen. Sie verbindet die Menschen in diesem grossen Land. Einsteigen, aussteigen, im Gang wird ausgetauscht, berichtet, gefragt, beantwortet. Wir verstehen aber kein Wort. Sind die einzigen Touristen in diesem Wagon. Victoria und Ludmilla erklären mit Händen und Füssen, dass der August perfekt sei. Wärmer. Wir sollten dann noch einmal kommen. Es ist aber grad so spannend Orte zu sehen, wenn «Off-Season ist». Wie damals im Februar als mich Mindu zum Everest Base Camp und über den Cho-La Pass führte. Kein Zelt war im Base-Camp gestellt, eine handvoll Touristen, dafür A....Bitterkalt, die reinste Luft mit bester Sicht.
Wie gesagt: Off Season! Ludmilla zeigt auf die Kartoffeln, den frischen Käse aus Nowosibirsk und bietet uns davon an. So lieb. Schmeckt herrlich und das Abteil riecht lange nach.
Während der Fahrt schaue ich am liebsten Stundenlang zum Fenster raus. Sibirien zieht vorüber. Tundra und Nadelwälder. Alle paar Tage stellen wir die Uhr um eine Stunde nach vorne. Morgens um 04:00 Uhr ist es taghell. Das Zeitgefühl habe ich längstens verloren. Wenn es Nacht wird, liege ich bäuchlings im Oberstübli vom Abteil. Lege den Kopf auf die verschränkten Arme und schaue Fern in die Landschaft. Es ist nie ganz dunkel. Diese Weite, diese Zeitlosigkeit. Ich realisiere das erste Mal ganz bewusst, dass ich mehr als ein Jahr vor mir habe. Zeit um zu lernen. Zeit um Neues zu entdecken. Im Lebensgarten säe ich Erlebnisse an – diese werde ich eines Tages als Erinnerungen ernten könnten. Vielleicht werde ich erst dann das Warum begreifen. Oh, ich schweife ab, zurück zur Bahnstrecke.
Mama Katharina, Freddy und ich steigen gerne zwischendurch aus. Um zu duschen, klar aber vielmehr um die Welt hier zu sehen und die Luft zu riechen. In Jekaterinburg klopft der Frühling leise an die Tür. Das Stadion für die Fussball-WM wird fertig gestellt. Die Menschen geniessen im Wintermantel die wärmenden Sonnenstrahlen im Park. Wir beobachten auf einer Holzbank, das «warm laufen» nach sechs Monaten Winter.
Kurz Innehalten und wieder wird es Zeit für die Weiterreise. Immer und immer wieder. Mama und ich sind ein gut eingespieltes Team. Ich weiss echt nicht wie ich ohne sie mit allem Karsumpel in den Zug käme. Beim Bahnhof wird jede Tasche gescannt und heute auch mal von den Polizeihunden beschnuppert. Der Zug 100 hält exakt 30 Minuten in Jekaterinburg. Rund 20 Minuten brauchen wir vom Perron bis wir im Abteil sitzen. Passkontrolle beim einsteigen, Gepäck abladen, Vorderrad abmontieren, Freddy mit Untersatz in einen Velosack packen, diesen in einem anderen Wagon verstauen, Gepäck einladen, fertig. Diesmal läuft alles anders. Komplett anders.
Die Prowodnitsa (danke Wetterfee Eva), Zugchefin hat die Papiere kontrolliert gibt uns das ok zum Einsteigen. Ein Herr in Uniform eilt heran, fragt mich mit strengem Blick etwas auf Russisch. Kein Plan was er will?! Er wird deutlicher, zeigt auf das Velo und ist nervös. Verstehe ich, Freddy kann einem nervös und kribbelig machen. Nun gut, die Situation ist nicht mehr zum spassen, etwas stimmt nicht. Obwohl, genau in solchen Situationen ein bisschen Spass helfen kann. Mit dem Übersetzerapp gibt er mir zu wissen, dass ich ein Billet für das Fahrrad brauche. Ohne Fahrradbillet, keine Zugfahrt. Gut, eine klare Ansage. Aber ein spezielles Billet für das Velo hab ich nicht, dies ist aber so angemeldet. Die Zeit läuft, 10 Minuten bis zur Abfahrt. Er bleibt stur und will ein Ticket sehen. Ich frage ihn wo und wie ich zu einem solchen Ticket komme und ob 10 Minuten dafür reichen, dies zu organisieren. Er weiss es auch nicht und fuchtelt mit seinen Armen ein Kreuz in die Luft und zeigt auf den Zug. Kein Ticket – Kein Zug. Das Basta-Prinzip. Mist.
Acht Minuten, alle sind eingestiegen, wir auf dem Perron mit einem einzigen und riesigen Taschenchaos. Soll ich's drauf an kommen lassen? Will er einfach ein paar Extra-Rubel? Egal, jetzt hilft nur noch eines: Drama, und zwar schnell! Beginne zu weinen - das Improvisieren bei den Theaterproben vor Jahren kommt mir hier zu Gute, hätte ich nie gedacht und lache innerlich - gehe in die Knie, erkläre dass meine arme, gebrechliche Mutter mit schweren Rückenschmerzen unbedingt nach Irkutsk muss, ich sie nur einmal pro Jahr sehe. Ach ihr hättet uns sehen sollen…Theater!
Er schnaubt laut, holt tief Luft auch er ist nun verzweifelt mit uns verzweifelten Touristen. Ohne ihm Platz zu geben für irgendwelche Worte beginne ich lauter zu einer Schrei-Wein-Hilflosigkeit. Er beruhigt mich, schaut nach rechts nach links, wird weich und gibt uns unter einer Bedingung das ok zum Einsteigen. Wir müssen für das Fahrrad bezahlen, er wird sich erkundigen wieviel dies kostet und dann im Zug ein Spezialbillet schreiben. Na also, geht doch! In 5 Minuten haben wir im Eiltempo alles verstaut. Sitzen im Abteil Nr. 6 und könnten jetzt eine Flasche Wodka saufen.
Uff! Das war knapp!!! Drei Stunden später kam er mit dem Handgeschriebenen Billet. Ob wir schon Bettwäsche bekommen haben? Das Wasser für Tee sei heiss. Das Velo ist sicher verstaut. Der schnaubige Herr von vorhin plötzlich so freundlich? Ich mag ihn schon richtig gut. Beim nächsten Halt, halten wir sogar einen Schwatz über den Zug und dies bei Sonnenuntergang. Herrlich.
Sowieso habe ich die Russinnen und Russen jetzt schon ins Herz geschlossen, warum? Im nächsten Blog! Wir machen uns parat zum Ausstieg. Nicht mehr weit bis Irkutsk.
Rollende Grüsse aus Zug 100
Euer Thesi
PS. Mittlerweile sitzen wir auf der Olchon Insel bei warmer Schokolade...draussen schneits.
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Sauzmä Aschi (Mittwoch, 23 Mai 2018 12:10)
Hei Thesi..... Herrlich deine Worte!!! Ich kenne Russland nur so....! Das wird sich kaum ändern. Man bekommt sie wirklich lieb die Russen. Ich sage jeweils sogar, dass die Russen einfach normal sind, .....vielleicht sogar normaler als wir.
Geniess diese Zeit und das wunderbare Land.
Häbet Sorg
Seelenreise (Donnerstag, 24 Mai 2018 17:11)
Hoi ihr zwöi Liebe,
Danke wieder einmal für den so wunderbaren eindrücklichen Bericht ….ich konnte mir diesen Billett-Mann bildhaft vorstellen, und auch dich, wie dir plötzlich die Theater-Erfahrung voll von Nutzen wird.
Machet's guet und bis zum nöchste Bricht.
Herzlich,
Heidi
Aschi (Dienstag, 29 Mai 2018 23:14)
Sali Thesi und Kathrin,
Deinen/euren Bericht zu verfolgen ist immer sehr interessant. Es fühlt sich fast so an als wäre man selber auf der Route. Die lange Zugfahrt ist natürlich zu zweit viel angenehmer und lustiger und ich finde es einfach toll, dass Mama Kathrin das Abenteuer "Sibirienfahrt" mit dir teilt. Gib ihr von mir einen dicken Kuss. Euch beiden eine gute, ruhige und sichere Reise.
Bis zum nächschtä mal
Aschi us Palma
Bernadette (Mittwoch, 30 Mai 2018 09:43)
Liebe Maria-Theresia
Oh, beim Lesen des Blog hielt ich urplötzlich an, holte tief Luft und Taschentücher um Letztere Euch theateralisch zu übergeben. Was für ein Ereignis und was für ein happy End! So spannend, macht weiter so – Deine Begabung, liebe Maria-Theresia verlangt nach weiteren Auftritten! �
Alles Liebe und gutes Anrollen in Wladiwostok – seid lieb gegrüsst und umarmt
Bernadette