Sitze im Wagon vier auf Bett 17. Im «Schniidersitz». Spüre die Muskeln in den Oberschenkel, sie ziehen. Das kommt wohl vom Radeln. Kopfkissen polstert den Rücken. Links von mir bearbeitet eine junge Russin Landkartenmaterial am Laptop. Die Haare gekonnt mit einer japanischer Haarnadel hochgesteckt. Ich staune immer wieder wie Menschen ihr Haar gekonnt selber zu einer Frisur püschelen, ich schaff nicht einmal ein anständiger Zopf. Möchte sie gerne nach dem Trick mit der Haarnadel fragen. Sie spricht kein Wort Englisch, ich kein Russisch. Das habe ich verpasst, für eine nächste Reise nach Russland oder Zentralasien würde ich vorher einen Kurs besuchen. Kommt auf meine WürdeTäteHätteIch Liste. Oben ihr liest die ältere Dame in einem roten Buch. Auf dem Cover sind lauter Hunde zu sehen. Wohl ein Hundebuch. Ein Pudel würde zu ihr passen. Sie ist sehr liebenswürdig, hat uns gezeigt wo die Kanne mit heissem Wasser steht, bietet uns Mandeln aus ihrem Nusssäcken an.
Es zieht immer mehr in den Oberschenkeln, ich muss die Beine anziehen. Zum Glück ist der Bildschirm beim Laptop beweglich, eine super Erfindung, so ist die Tastatur nun beinahe senkrecht auf den Oberschenkeln und ich kann aber gleichzeitig gerade auf das Worddokument schauen. Toll! Klappe ich den Bildschirm ein paar Millimeter nach unten, sehe ich Mama gegenüber. So schön. Klappe den Bildschirm hoch und wieder runter, hoch, runter, hoch, runter. Ja sie ist wirklich hier, es ist kein Traum. Wir sind zusammen auf dem längsten Bahnnetz der Welt unterwegs.
Vom Abteil aus sehe ich direkt zum Fenster raus, welches auf dem Gang ist. Zwischen dem dichten Wald lugt immer wieder das Abendrot hervor. Seit nun mehr als 24 Stunden sind wir im Zug, weitere 12 folgen und es sieht immer ähnlich aus. Wald, endlose Weite, Wald, ein Dorf, ein Bahnhof, Sumpf, Wald. Zur Abwechslung stehe ich auf, lehne mit den Armen auf die Stange am Fenster und jedesmal komme in ungeschickt an die untere kleine Vorhangstange, die so knapp berechnet ist, dass sie hinunterfällt. Mit ein wenig Geschick balanciere ich den Bambusstab in die zwei Löcher. Sie hält, bis zum nächsten Anlehnen. Das erinnert mich ans Zugfahren in der Kindheit, am liebsten drückte ich die Nase ans Fenster um fast draussen zu sein. Der Zugschaffner weckt mich aus den Erinnerungen. Er saugt mit einem Art Museumsstaubsauger den grauen Bodenteppich. Pro Wagon hat es eine Zugchefin die zum rechten schaut. Vorne steht der überdimensionale Pot mit heissem Wasser, hinten sind zwei Toiletten. Im Zug von Spiez nach Bern oder Zürich gehe ich nur im äussersten Notfall auf die Toilette. Hier auch mal zwischendurch um mir die Beine zu vertreten. Zwar ein bisschen nass aber erstaunlich sauber. Stinkt auch überhaupt nicht.
Direkt hinter den Toiletten hat es noch eine Türe. Sie ist abgeschlossen, zu recht, dort harrt nämlich Freddy aus. Die letzte Nacht hat es ganz schön gerattert. Gegen 03:00 Uhr hat der Zug abrupt gestoppt. Das quietschen der Bremsen riss mich aus dem Schlaf, der erste Gedanke war natürlich bei meinem Göppel. Steht er wohl noch? Er steht bestimmt! Er ist aus Edelstahl, den haut so schnell nichts um!
Die Gedanken beginnen zu kreisen. Die Zugfahrt gleicht meiner aktuellen Lebens-Situation. In meinem Alltag vor der Reise war ich auf der Schiene unterwegs. Manchmal war die Fahrt ganz sanft, an manchen Tagen ratterte es heftig. Aber die Schiene war gelegt. Ich wusste meine Arbeitszeiten, Termine waren gesetzt wie die Haltestellen. An manchen Haltestellen stieg ich aus und traf Freunde, hatte eine kostbare Zeit mit ihnen und stieg wieder in den weiterziehenden Zug ein. Und an irgend einem Punkt auf der Lebensfahrt ist dann Endstation. Adiömersi. Wieviele Stationen, Haltestellen, Fensterplätze gibt es wohl noch?
Am 03.03.2018 kam zuerst der abrupte Stopp. Er riss mich aus dem "Alltags-Schlaf". Das Leben hat die Bremse gezogen. Dieser Zug fährt nicht mehr weiter. Einmal umsteigen bitteschön. Umsteigen tut mir gut. Verändert meine Sicht auf die Dinge. Umsteigen ist aber auch mühsam. Das Gepäck wird neu gepackt, hab ich alles? Nichts vergessen? Erwische ich den nächsten Zug?
Mir wird von neuem bewusst wie wertvoll es ist Zeit mit meiner Mama nicht nur zu verbringen, sondern auch die Zeit zu Er-Leben. Auch wenn wir Stunden mit zwei anderen Russinen in einem Viererabteil sitzen und nichts tun. Wir sprechen über Dinge, schauen gemeinsam zum Fenster raus, beobachten die Natur. Einfach nur schön. Dank ihr konnte ich überhaupt Umsteigen. Sie ist mein Rückenwind. Das Umsteigen lehrt mich ein Stücken Leben. Das Mühsame dauert nur einen Moment. Aber auch dieser Zug wird einmal anhalten. Ich habe grosses Glück, dass mein "Zugnetz" viele Anschlüsse und Verbindungen hat. Das Umsteigen an sich ist nicht selbstverständlich. Dafür danke ich jeden Abend.
Langsam wird es Dunkel, aber nie ganz, um 04:00 Uhr ist es schon wieder taghell, die Sonne scheint. Seit St. Petersburg haben wir die Uhr zweimal nach vorne gestellt. Wir sind der Schweiz 3 Stunden voraus. Bis nach Wladiwostok sind es dann +8 Stunden. Es ist ein riesen Gump.
Wenn Züge gumpen :)
Liebe Grüsse aus Wagon 4
Euer Thesi
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Seelenreise (Mittwoch, 16 Mai 2018 14:43)
Hoi Maria-Theresia, hoi Katharina,
Danke vielmals für den schönen Bericht, der wieder einmal so wunderbar Anteil nehmen lässt an dem, was ihr so erlebt. Rattert gemütlich weiter, möglichst ohne weitere Rucks...
Weisst du, wegen den Haaren, nicht bei allen hält eine solche japanische Haarnadeln. Dazu brauchst du die richtige Art Haare, möglichst krause. Bei mir hält kaum eine Haarkralle, geschweige denn Haarnadel, weil ich ganz glattes feines Haar mit Schnittlauchlocken habe :-)
Herzlich,
Heidi
Wetterfee (Mittwoch, 16 Mai 2018 16:39)
Er heisst Samowar, der Kocher/Boiler. Und der Wagenchef Prowodnik (w: Prowodnitsa), wenn ich mich recht erinnere. ;)
Ich hoffe, ihr steigt vielleicht am Baikalsee um bzw. aus und erlebt ein wunderschönes Sibirien.
Eva